Hat uns der fortschreitende Klimawandel längst bewusst gemacht, dass eine umgehende Abkehr von den fossilen Brennstoffen notwendig ist, so haben die Ereignisse in der Ukraine und die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas den Druck vervielfacht. Mit Spannung wird diese Woche der überarbeitete Energieplan der EU erwartet. John Goddard, Partner, stellvertretender Vorsitzender und Leiter des Global Sustainability Centre of Excellence bei L.E.K. Consulting, hinterfragt, ob die zu erwartenden Pläne für die Energiewende ausreichen.
18. Mai 2022, London
Die schlimmen Ereignisse in der Ukraine und die Haltung Russlands gegenüber dem Westen haben deutlich gemacht, dass sich Europa um seine Energiesicherheit kümmern muss. Während die EU ihre russischen Ölimporte wahrscheinlich einschränken kann, stellt die Abkehr vom russischen Gas, das 40 % des Verbrauchs und 10 % der verfügbaren Bruttoenergie ausmacht, eine größere Herausforderung dar. Dies geschieht zu einer Zeit, in der weitere Impulse erforderlich sind, um die Abkehr von fossilen Brennstoffen zu beschleunigen und bis 2050 eine Netto-Null-Emission zu erreichen, um dem Ziel einer globalen Erwärmung von 1,5 Grad Celsius näher zu kommen.
Die Krise im Energiesektor kann ein wichtiger Katalysator sein, um das Tempo des Wandels zu beschleunigen. Er ist notwendig, um sowohl die Energiesicherheit in Europa als auch die Energiewende zu erreichen. Das Problem ist allerdings komplex. Es erfordert eine Lösung, die eine kurz-, mittel- und langfristige Planung und eine rasche technologische Entwicklung umfasst, die wiederum durch starke Partnerschaften zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor sowie den Nationalstaaten gestützt wird. Bisher fehlt es uns an der nötigen Klarheit.
Am 18. Mai wird die EU voraussichtlich ihren überarbeiteten Energieplan veröffentlichen, der Aktionen für ihre RePowerEU-Strategie enthalten wird. Dabei wird ein Finanzpaket für die Energiewende in Höhe von ca. 200 Milliarden Euro erwartet. Zudem sollen die Maßnahmen höhere Ziele für erneuerbare Energien – mit einer Steigerung des Anteils sauberer Energien von 40 % auf 45 % bis 2030 –, eine potenzielle Lockerung grüner Standards sowie Notfallpläne für den Fall, dass Russland seine Gaslieferungen in die EU einschränkt, umfassen. Aber reicht das aus und deckt es alles ab, was es sollte?
Kurzfristig drängt die EU darauf, die Gasspeicher für den nächsten Winter deutlich aufzustocken. Zwar wurden neue Verträge über Lieferungen von verflüssigtem Erdgas (LNG) mit den USA geschlossen, doch müssen auch die LNG-Importkapazitäten erhöht werden, – insbesondere in Nordeuropa. Man hofft, dass der Plan der EU dazu beitragen wird, diesen Bedarf zu decken. Wie aus den jüngsten Berichten hervorgeht, fördern Regierungen, die über ungenutzte Gasreserven verfügen, neue Produktionen und die Wiedereröffnung von Bohrlöchern, wo immer dies möglich ist. Durch diese Maßnahmen und weitere Fortschritte bei der Energiewende dürfte ein Großteil Europas in den nächsten fünf Jahren, wenn nicht schon früher, vom russischen Gas unabhängig werden.
Es gibt außerdem nach wie vor Möglichkeiten für eine höhere Marktdurchdringung von Solar- und Windenergie in Europa. Derzeit liegt sie nur bei 5 Prozent beziehungsweise 13,5 Prozent des Bruttostromverbrauchs der EU-Mitgliedsstaaten, wobei die Kapazitäten in Abhängigkeit von den verfügbaren Investitionen relativ schnell ausgebaut werden können. Zusätzliche Solarenergie könnte in den nächsten drei bis vier Jahren einen bedeutenden Unterschied ausmachen. Die jüngste Ankündigung Deutschlands, Bürger zu ermutigen und gewerbliche Gebäude zur Installation von Solaranlagen zu verpflichten, ist der richtige Schritt. Zwar können Wind- und Solarenergie einen beträchtlichen Teil des europäischen Energiebedarfs decken, doch ihre Saisonabhängigkeit und Unterbrechungen erfordern eine planbare Energieversorgung aus Grundlastquellen und eine Energiespeicherung. Beides muss stärker in den Fokus rücken.
Mittelfristig wird Gas nach wie vor eine Grundlastrolle spielen müssen. Wenn die Gelegenheit genutzt wird, die Investitionen in und die Entwicklung von Technologien zur CO2-Abscheidung, -Verwertung und -Speicherung (CCUS) weiter zu verstärken, kann Gas eine größere längerfristige Rolle spielen und steht nicht im Widerspruch zu den Netto-Null-Zielen. CCUS bindet CO2 auf unbestimmte Zeit oder so lange, bis es für die Herstellung neuer Materialien oder synthetischer Brennstoffe verwendet werden kann. Die Investitionen in CCUS machen jedoch durchweg weniger als 1 % der jährlichen Gesamtausgaben für saubere Energie aus. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass es keine ausreichenden Investitionsanreize gibt. Dies sollte für Europa mehr Priorität haben, denn es ist zu befürchten, dass die bevorstehenden EU-Pläne in diesem Bereich nicht ausreichen werden.
Die Kernenergie spielt eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Grundlastenergie, um die Schwankungen der erneuerbaren Energien auszugleichen. Und obwohl große Kernkraftwerke bei Regierungen und in der Öffentlichkeit eine Reihe von Vorbehalten hervorrufen, scheint sich der Trend in Europa zu ändern. In mindestens sechs europäischen Ländern sind neue Anlagen geplant. Mehrere Länder erwägen die Erweiterung bestehender Reaktoren und die Attraktivität der Kernenergie als langfristige Quelle für Grundlaststrom dürfte mit der Entwicklung kleiner modularer Reaktoren, die Anfang der 2030er-Jahre zur Verfügung stehen sollen, noch steigen. Die Einrichtung dieser kleineren, kostengünstigen, industriell gefertigten Quellen grüner Energie sollte auf der europäischen Agenda für den Energiemix weiter nach oben rücken.
Die Nachfrage nach groß angelegten und langlebigen Energiespeichern wird steigen, wenn die Netze auf einen hohen Anteil von Energie aus schwankenden erneuerbaren Quellen umgestellt werden. Die vielversprechendsten Speichertechnologien für einen breiten Einsatz werden auf grünem Wasserstoff basieren, d. h. auf Wasserstoff, der durch Elektrolyse von Wasser unter Verwendung erneuerbarer Energien erzeugt und bei Bedarf zum Ausgleich des Netzbedarfs freigesetzt wird.
Die EU will den Einsatz von Wasserstoff im Energiesystem deutlich erhöhen. Neben seiner Rolle als Ausgleichsfaktor für eine stabile Stromversorgung wird Wasserstoff der entscheidende Energieträger bei der Dekarbonisierung der Schwerindustrie und bei Brennstoffzellen als mobile und dezentrale Stromquellen sein. Sobald die Produktionskosten sinken, – was durch höhere Kohlenstoffpreise und spezifische staatliche Steueranreize begünstigt wird –, kann grüner Wasserstoff eine sehr wichtige Rolle beim Übergang zu einer kohlenstofffreien Energieversorgung spielen. In der Wertschöpfungskette, zum Beispiel beim Transport, entstehen jedoch hohe Verluste. Der Verbrauch an erneuerbaren Energien ist beträchtlich, sodass er durch andere planbare Erzeugungsquellen wie die Kernenergie ergänzt werden muss.
Ein klares und ganzheitliches Konzept für die Energiepolitik war noch nie so dringend notwendig wie heute. Während die europäischen Regierungen kurzfristig kritische Energiefragen zu lösen haben, besteht die Möglichkeit, die Energiewende zu beschleunigen und damit die Energiesicherheit der gesamten Europäischen Union zu untermauern und einen Netto-Nullpunkt zu erreichen. Jegliche Tendenz der Nationalstaaten, die Energiewende zu pausieren, ist wohl kontraproduktiv und sollte daher unbedingt vermieden werden. Die Ankündigungen der EU in der kommenden Woche sind zu begrüßen, aber es bleibt noch viel zu tun, um einen soliden und vollständig integrierten Plan umzusetzen.
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